Ich sprach das neulich schon mal an, aber ich bin mit diesem Gedanken scheinbar noch nicht fertig. Immer wenn ich von den Pilgerplänen der Tochter berichtete, sonnte ich mich in meiner Coolness und der Bewunderung der anderen darüber, dass ich das Kind einfach so ziehen lasse, sechs Wochen lang, ohne große Planung, einfach nur mit dem Nötigsten im Rucksack.

Als die Tochter mit ihren Freundinnen in den Vorbereitungen steckte, tauschte ich ab und zu mit dem besten Vater meiner Kinder oder der Mutter der einen Pilgerfreundin ein „Waaah! Jetzt sind sie bald weg, das ging aber doch schnell!“, aber ein richtiges Loslassen und „alleine machen lassen“ war das eben doch nicht. Wir sichteten zusammen die Funktionsklamotten, bestellten gemeinsam Fehlendes, diskutierten den Rucksackinhalt und halfen beim Kauf der Fahrkarten. Wir taten das, was Eltern von großen Kindern eben tun: machen lassen, aber ein Auge drauf haben. Und bei Bedarf einspringen.

In der Nacht vor der Abfahrt der drei Pilgerinnen plagten mich die schrecklichsten Gedanken. Drei schöne, junge Frauen, alleine unterwegs, klug und eloquent, dabei mit einer gehörigen Portion Naivität, die schlicht der Jugend geschuldet und nicht verwerflich ist. Was da alles passieren kann! Ich steigerte mich systematisch in eine regelrechte Panik hinein, aus der ich nur hinausfand, indem ich mich erinnerte, was ich als 18jährige ohne Schäden überlebt hatte und dass eine komplette Staffel „Criminal Minds“ eben doch nicht die perfekte Vorbereitung zum Loslassen gewesen ist.

Drei strahlende Mädchen reisten ab, meldeten sich regelmäßig mit lustigen Bildern und detaillierten Berichten in ihren Blogs. Alles war gut, alles lief prima, bis es nicht mehr gut war, es nicht mehr prima lief. Die eine Pilgerfreundin musste wegen einer dicken Blase und einer entzündeten Achillessehne pausieren. Dann starb der Opa der anderen Pilgerfreundin. Und zuletzt klagte die Tochter über eine schmerzhafte Schwellung am Fuß, die sie am Weitergehen hinderte.

Dank moderner Kommunikation und freiem WLAN in den Unterkünften der Mädchen, trudelten die whatsapp-Nachrichten in immer größerer Menge ein. Und ich stellte fest, dass weder ich losgelassen hatte, noch mein Mädchen wirklich gesprungen war. Viele Probleme häuften sich da an und der erste Impuls war „Mama erzählen, Mama fragen, mit Mama besprechen“. So, wie wir das daheim eben machen und so, wie wir großartig miteinander leben. Mitteilen und teilen. Jetzt aber liegen viele hundert Kilometer zwischen uns und meine Vorstellungskraft reicht einfach nicht aus. Wie fühlt man sich wohl, wenn man tagelang immer nur marschiert, durch Regen und Wind, jede Nacht in einem anderen Bett schläft, sich etwas eigenwillig ernährt und plötzlich streikt der Körper. Oder die Psyche. Oder dieses Gruppendynamikding der drei Pilgerinnen, von denen sich zwei seit sehr vielen Jahren kennen, während die Dritte eben relativ neu im Bunde ist. Ich versucht per whatsapp Mut zuzusprechen, zu klären oder schlug vor, wie die drei miteinander Lösungen finden könnten. Gleichzeitig tauschte ich mich mit der Mutter der Pilgerfreundin aus, deren Opa gestorben ist. „Wie geht es ihr heute, wird sie weitermachen, verkraftet sie es?“ Der Tochter schrieb ich, was ich erfuhr und gab gleichzeitig Tipps, wie eine Fußschwellung, die ich auf einem Handybild begutachten konnte, zu behandeln wäre.

Als ich mir nur noch Sorgen machte und bereits überlegt, wie ich nach Spanien reisen würde, um meinem Kind beizustehen … merkte ich, dass das so nicht weitergehen kann. Und teilte der Tochter mit, dass ich zu weit weg bin, um helfen zu können und das eigentlich auch nicht wolle. Mit dem mir eigenen Talent hatte ich den denkbar schlechtesten Zeitpunkt für diese Mitteilung gewählt (als nämlich die Tochter höchst verzweifelt wegen ihres Fußes war) und bekam deshalb eine entsprechend beleidigte und wütende Antwort. To make a long story short: wir vertrugen uns kurz darauf wieder und die Tochter besaß die Größe, mir zu sagen, dass ich recht hatte. Grandios. Ich hatte also die Nabelschnur mal wieder durchgeschnitten (das tut man im Laufe eines Kinderlebens sehr, sehr oft, das Ding wächst irgendwie immer wieder nach!) und beobachte jetzt mit Staunen, was passiert: nämlich nichts! Die Welt dreht sich weiter. Das Kind hat in einer fremden Stadt, ohne der Landessprache mächtig zu sein, ganz alleine eine Ärztin gefunden, sich eine Diagnose und ein Rezept abgeholt, Letzteres eingelöst und sorgt nun ganz alleine dafür, dass das mit dem Fuß wieder klappt. Sie versorgt sich mit Lebensmitteln, sie sucht sich Schlafplätze, sie wäscht ihre Klamotten und kauft sich, was fehlt.

So großartig der tägliche Kontakt ist, so schwer macht er es doch, sich wirklich zu trennen und auf eigene Füße zu stellen. Für das Jahr in Afrika, das für die Tochter im August beginnt, weiß ich jetzt, dass weniger mehr ist. Dass ich sie loslassen muss, notfalls auch ein bißchen schubsen, damit sie losgehen kann.

10 Kommentare zu “Pilgern macht selbständig”

  1. Eva sagt:

    Liebe Frau Mutti,
    wie schon mal geschrieben, stecke ich in einer ähnlichen Lebensphase. Nur ist bei uns in Ba-Wü das Abi noch nicht ganz durch, der Sohn entschwindet dafür schon am 15.7. für ein Jahr nach Peru. Auch mit Weltwärts. Allerdings habe ich keine richtige Abnabelungszeit, denn pilgern kann er vorher nicht mehr lange (außer einer Woche mit seinen Weltwärtskollegen-das gehört da zum Programm zum Kennenlernen).
    Vor Weihnachten, als die Zusage kam, war ich cool. Jetzt merke ich aber so langsam, dass ich deutlich weniger cool bin als gedacht.
    Wir waren heute Rucksack und anderes Zubehör kaufen, Sie kennen das. Wir führten gute Gespräche auf dem Weg hin und zurück. Ich weiß, dass es dort in der Familie, in der er wohnt, Internet gibt. Aber er wird trotzdem ganz schön weit weg sein. Mal sehen, wie gut ich dann beim Loslassen sein werde.
    Ich hoffe, gut!
    Ihnen und Ihrem Mann gute Gedanken und Zutrauen, wird schon werden, oder?
    Viele Grüße,
    Eva

  2. Bellana sagt:

    Obwohl ich diese Phase bereits schon länger hinter mir habe, holt mich diese Gefühle doch immer wieder ein. Fernflüge werden online verfolgt, keine Nachrichten sind gute Nachrichten usw., das kenne ich alles auch.
    Wenn unsere Hilfe oder unser Rat benötigt wird, stehen wir aber immer bereit. Ich war aber manchmal froh, nicht alle Details zu kennen und habe einfach unserer Erziehung vertraut. Abnabeln ist besonders für uns Mütter schwierig, es wird langsam besser, wenn sie nicht mehr zuhause wohnen.
    Du hast Deinen Kindern alles mitgegeben, was sie für ihr Leben brauchen!
    Grüßle Bellana

  3. Seifenfrau sagt:

    Ja. Die Mysterien der Nabelschnur…

  4. Uschi sagt:

    Eine bessere Vorbereitung auf Afrika konnten Sie (ja sie beide) nicht haben. Und ich finde sie machen das toll…alle beide.

    Und die Rückbesinnung auf das was man selber schon mit 16,17,18… erlebt, gesehen und unternommen hat und dass auch unsere Mütter dabei sehr gezittert haben müssen ist vermutlich ein guter Weg es selber zu verkraften.

    Lieben Gruß
    Uschi

    P.S.: Und hey…sie ist fast am Ziel!!! TOLL!!!

  5. Sigrid sagt:

    Liebe Pia,
    ich lerne hier gerade für die Zeit in sechs bis acht Jahren. Sie werden schneller um sein als mir lieb ist.
    Auf den Blogs der Mädchen, klingt es nicht so dramatisch; aber dass weißt Du ja (dort schreibt man nicht alles)
    In jedem Fall macht Ihr das großartig.

  6. Inga sagt:

    Liebe Pia,

    ich glaube, die heutigen einfachen Kommunikationsformen machen die Abnabelung deutlich schwieriger. Ich habe den Vergleich gehabt mit meinem Auslandsjahr und dem Auslandsjahr der Tochter meiner Freundin.
    Damals vor gut 25 Jahren setze man sich in den Flieger, rief an, als man heil da war und dann gab es manchmal am Wochenende ein Telefongespräch von höchstens zwei Minuten, weil es sonst zu teuer geworden wäre. Insgesamt musste man seine Probleme alleine lösen, egal, ob Streit mit Freundinnen, irgendwelche Wehwehchen oder Heimweh. Mama war halt zuhause in Deutschland und man konnte eben nicht ständig um Rat fragen. Man war ein Jahr weg, die Welt drehte sich sowohl daheim wie auch im Ausland weiter und man lebte eben quasi ohne Eltern-Einfluß und mußte sich durchbeißen.
    Als die Tochter der Freundin nun nach Australien ging für ein Jahr war das anders. Es wurde jeden Tag mit Mama ge-facetime-t, es gab wenigsten 20 WhatsApp-Nachrichten am Tag, alles und jedes wurde mitgeteilt und diskutiert. Zusätzlich wurde auf facebook noch mit den Freunden daheim kommuniziert (der Freund ist auf einem Foto mit einem anderen Mädchen zu sehen, OMG!!!, stundenlanges skypen mit der Mutter, der besten Freundin, dem vermeintlichen untreuen Freund…). Ich denke, wenn man heute in Ausland geht, lebt man in zwei Welten, eben weil es durch die modernen Kommunikationsmittel so einfach ist, weiterhin an der Nabelschnur zu hängen.
    Eigentlich ist das sehr schade! Denn wenn ich was gelernt habe im Ausland (abgesehen von der Sprache), dann das, daß man Probleme auch alleine lösen kann.
    Die heutigen Austauschschüler etc. tun mir oft leid, weil der Sinn des Auslandsjahres, nämlich auf eigenen Beinen zu stehen, ja somit irgendwie ein bißchen verloren geht.

  7. Malou sagt:

    Fluch und Segen der Technik – als wir vor 15 Jahren für ein Jahr in Südamerika unterwegs waren, konnten wir uns nur alle paar Wochen mal melden, da Internet eben nicht immer und überall verfügbar war. Damals hat uns das nicht weiter gejuckt – wir waren ja beschäftigt. Meine Mutter gestand mir später, dass sie schon manchmal mächtig gelitten hat. Wenn ich mir jetzt vorstelle, dass das Töchterlein in absehbarer Zeit allein losziehen wird, kann ich sie gut verstehen.
    Die Pilgerreise ist aber sicher die beste Vorbereitung für alle Seiten. Fern, aber doch nicht unerreichbar. Unterwegs, aber doch noch im vertrauten Europa … und was ich bisher in beiden Blogs gelesen habe, gefällt mir gut. Sie beide machen das prima.
    Herzliche Grüße,
    Malou

  8. Brigitte sagt:

    ich persönlich habe ja den Verdacht, dass es sich mit den Nabelschnüren wie mit den Köpfen der Hydra aus der griechischen Mythologie verhält: für jede, die man durchschneidet, wachsen 7 nach…….

  9. Anna sagt:

    Irgendwann wendet sich das Blatt – so geht es zumindest mir gerade mit meiner Mutter (in ihren 70ern). Ich lebe im Ausland, sie in Deutschland, und wenn ich sie mal nicht sofort erreichen kann, mache ich mir sofort Sorgen. Ich denke jeden Tag an sie, ich hoffe, dass es ihr gut geht, und sie fehlt mir, und das trotz aller Kommunikationsmoeglichkeiten (sie hat mittlerweile sogar ein Smartphone). Als ich mit 19 ins Ausland ging, es so gut wie kein Internet gab und auch Handies nicht so weit verbreitet waren, kannte ich keine Furcht, das war alles einfach nur total aufregend und spannend. Keine Ahnung, wie meine Mutter das hinbekommen hat ohne verrueckt zu werden. Ich bewundere sie dafuer heute sehr – gerade weil ich es jetzt selber so erlebe mit ihr.

  10. Croco sagt:

    Ich habe mir schon gedacht, Sie waren so still. Klar blutet das Mutterherz. Dass es dazu gehört, ist genau so klar. Weiterhin gute Nerven