Fransen am Mund
28. Oktober 2011
Kennen Sie diesen Ausdruck? Oder wird der nur hier regional verwendet? Er bedeutet jedenfalls, dass man jede Menge geredet, erklärt, gesagt hat, oft ohne dass es ankommt oder man verstanden wird.
Als die Kindelein sehr klein waren und den größten Teil des Tages auf meinem Arm verbrachten, hatte ich abends Fransen am Mund, weil ich jede Tätigkeit im Haushalt säuselnd kommentierte: „Schau mal, jetzt schwinge ich *huiiii* den Staublappen, weil hier sieht´s ja aus wie bei Familie R aus N, was hast du dir nur für ein Zuhause ausgesucht … laberlabersäusel.“ Oder ich tröstete ein untröstliches Baby, sang Schlaflieder und erfand Dutzende von Koseworte für die allerhübschestenklügstenniedlichstensüßestenschlauesten Kinder.
Ich war abends sehr müde. Und wollte nie wieder irgendwas sagen.
Kurze Zeit später beantwortete ich Fragen. Viele Fragen. Sehr viele Fragen. Warum wird es dunkel? Wie funktioniert eine Waschmaschine? Warum haben Igel Stacheln? Warum können Menschen nicht fliegen? Warum sind die Dinosuarier ausgestorben? Wieso muss ich ins Bett? Wann fängt Sandmännchen an? Warum verliere ich immerimmerimmer bei „Tempo, kleine Schnecke!“??? Und ich las Bücher vor oder erzählte Geschichten zu den Wimmelbildern. Und sprach die ersten Verbote aus: Nicht die Füße auf den Tisch, nicht die Wurst/den Käse vom Brot essen, nicht dem Baby den Finger ins Auge pieken. Ich tröstete wortreich bei kleineren und größeren Verletzungen oder bei den unzähligen HustenSchnupfenFieberWindpockenMagen/Darm-Krankheiten.
Ich war abends sehr müde. Und wollte nie wieder irgendwas sagen.
Gefühlte Wochen nur später las ich gemeinsam mit den Leseanfängern hochinteressante Texte: lu, li, la. Tu, ti, ta. Und immer schön zusammenziehen, nicht l-u, sondern lu, du kannst das. Motivierendes Sprechen ist nicht weit weg vom Babygesäusele. Ich ermutige, Kästchen um Kästchen mit Übungszahlen zu füllen und fragte Fakten zum Igel im Winter ab. Oder die Hauptstädte der Bundesländer. Ich schlichtete Streit zwischen Geschwistern oder zwischen Besuchskindern und der eigenen Brut. Erklärte die Welt, so weit mir das möglich war und beantwortete Fragen, deren Antwort ich oft mal suchen musste.
Ich war abends sehr müde. Und wollte nie wieder irgendwas sagen.
Etwa zwei Tage später fragte ich Englisch-, Französisch-, Lateinvokabeln, binomische Formeln und die chemische Formel der Photosynthese ab. Sagte etwa viertausend mal am Tag im Winter „Mach die Tür zu!“ und im Sommer „Lass die Tür auf!“. Ich lehrte den Spruch, den schon meine Oma mir auf den Weg gab „Geh nie mit leeren Händen!“ und erwähnte jeden Tag, mehr oder minder beiläufig, dass ein aufgeräumtes, gelüftetes Zimmer durchaus für einen aufgeräumten, gelüfteten Kopf sorgt. Ich erklärte, wie die elektrischen Großgeräte im Haus funktionieren und fordere ständig, dass das theoretische Wissen in die Praxis umgesetzt wird. Ich diskutiere über Weltwirtschaft und tue so, als wüsste ich genau, welcher Minister in welchem Amt tätig ist und ob er seinen Job gut macht. Ich berate in Stylingfragen und sage manchmal dann doch lieber nix.
Ich bin abends sehr müde. Und will nie wieder irgendwas sagen.
Das ist möglicherweise der Grund, warum ich so gerne blogge. Finger bewegen klappt nämlich immer noch gut.
28. Oktober 2011 um 15:11
Hier auch. Alles. Also, der Ausdruck ist bekannt, benutzt und in eben jenen Formen erlebt…
28. Oktober 2011 um 15:19
oder auch: Flokati auf der Zunge ;-)
28. Oktober 2011 um 15:24
süpercooler text. frau mutti hat bei ihnen schonmal einer gefragt, ob er ihre texte verlegen darf? ich wär ja dafür. schönes wochenende ihnen und franz. :)
28. Oktober 2011 um 15:40
unterschreib, unterschreib, unterschreib (und ich nenne es übrigens ‚Mund fusselig reden“ – gerade überlege ich, wie ich es im französischen und ob überhaupt nenne).
28. Oktober 2011 um 15:42
Fransen am Mund kenne ich auch, hier wird aber mehr „Den Mund fusselig reden“ verwendet.
Schönes sonniges Wochenende
Juniwelt
28. Oktober 2011 um 15:57
Bei uns heißts auch so ähnlich: sich an Mund franslich reden. Tja bei uns wars auch so ähnlich.
Sie müssten Ihren Blog drucken lassen. Was früher der kleine Erziehungsberater war ist heute Frau… äh… Mutti. Sprachlich und inhaltlich brauchen Sie sich gar nicht hinter Axel Hacke verstecken. Ich mochte seinen kleinen Erziehungsberater gern, Ihre Frau…äh…Mutti-Kolumne gefällt mir aber schon besonders gut! Ihr Blog ist druckreif.
Liebe Grüße von einer, die eigentlich Mam/Mama heißt, aber vom Jüngsten, inzwischen kurz vor 20 und heuer zum Studieren ausgeflogen, oft ‚Muuuutti‘ geheißen wird
Ihre Linde
28. Oktober 2011 um 16:14
Oh ich dachte jetzt kommt: „Und gefühlte eine Woche später das Dejavú … es zog ein rotes fusseliges Katerrin gelfranz ein und ich säuselte viele allerliebste Koseworte und sprach wieder: nein nicht die Füße auf den Tisch, nicht die Wurst vom Brot essen, schlichtete Streit zwischen Kater 1 und 2 und….gut abends konnte ich nicht mehr sprechen weil ich mit Pfote im Mund einschlief ;-))))“
28. Oktober 2011 um 16:43
Wieder einer Ihrer wunderbar auf den Punkt (weil gut beobachtet und gut formuliert!) gebrachten Beiträge.
Danke.
Ich LIEBE es, bei Ihnen zu lesen.
Danke.
Herzliche Grüße aussem Ruhrpott.
28. Oktober 2011 um 16:55
Das Gegenteil von den Fransen am Mund wäre dann das Schnitzel, das man ans Ohr geredet bekommt =o)
Ich gehöre eher zur Zuhör-Fraktion (wahrscheinlich mangels Nachwuchs) und ich bin manchmal abends auch sooooo müde ;o)
Grüßle
Manuela
28. Oktober 2011 um 17:11
*hach* genauso isses und nach dem ganzen gesabbel am Tag liebe ich es in der Stille hier zu lesen!
28. Oktober 2011 um 17:20
Herrlicher Artikel! Und ich muss/kann jedes Wort voll bejahen!!! Genau so ist es! Ich habe übrigens Franseln am Mund gehabt vor lauter Laberei! :)
Schönes Wochenende – moni
28. Oktober 2011 um 17:23
Bei uns redet „Mutt“i sich den „Mund fusselig“…wenn es wieder mal ganz arg ist !! Und das ist es leider öfter ! Kann man sich eigentlich auch „fusselig schreiben“ denn mit einem pubertierendem 15,9 jährigen Sohn bin ich zum Zettel und Nachrichten schreiben über gegangen…. da kann mein Schätzchen immer noch mal Muttis Wünsche bezüglich Ordnung im Zimmer /Bett machen /Klamotten in die Wäsche oder Schrank/schmutziges Geschirr in den Spüler usw.usw, usw. nachlesen und nieeeeeeeeeee mehr behaupten : „das hast du nie gesagt“ oder (wahlweise) „ich hab dich nicht verstanden“…
Aber-so richtig funktioniert das auch nicht…und ich finde dann tausend Zettelchen im unaufgeräumten Saustall…. seufz, wann nur wann hat es das Kind begriffen ?!
Aber vielen Dank für den so wahren und lustig zu lesenden Blog der einen so richtig „erwischt“
LG Conni
28. Oktober 2011 um 18:04
Genau, Fransen am Mund haben oder wie auch andere hier schreiben: den Mund fusslig reden.
Ich kam mir zu den Zeiten, als der älteste Sohn ein Baby war (er ist jetzt 6) immer vor wie in einem Musical. Er war ein…Baby das Aufmerksamkeit besonders brauchte ;-) und liess sich nur mit Liedern beruhigen. Stellen Sie sich an dieser Stelle das “Schau mal, jetzt schwinge ich *huiiii* den Staublappen, weil hier sieht´s ja aus wie bei Familie A aus M, was hast du dir nur für ein Zuhause ausgesucht … laberlabersäusel.” in Variationen vor, aber gesungen. ALLES. Das hat unglaublich genervt, mich und meine Mitmenschen. Außder den ältesten Sohn, versteht sich… Ich bin froh, dass ich wieder normal reden darf, heutzutage. Da rede ich mir auch gerne den Mund fusselig. Oder Fransen an den Mund. Was auch immer :-)
(Und ich bin außerdem grade froh, dass Leseanfänger heutzutage mit klitzekleinen Geschichtchen beginnen- lu li la würden Sohn und ich glaube ich nicht lange aushalten…)
28. Oktober 2011 um 18:48
Chapeau!
Das war wieder ein meisterhaftes Geklapper, danke für diese Freude.
28. Oktober 2011 um 19:30
Genau aus diesem Grund lese ich so gerne hier…aus genau diesen Gründen spreche ich ab 20.00 Uhr eher selten und ich befinde mich derzeit in der F.U. = Fu-Phase!
Ich freue mich auf die Diskussionen über Politik und so…die kann dann der Herr des Hauses führen….
die Spillie-Mama
(genau die, die tolle Monsta-Ideen hatte und es nicht auf den Schirm kriegt Blanko-Tischsets nach Nierstein zu schicken….)
28. Oktober 2011 um 19:32
Oh das kenne ich …super genialer Text und hier sagen wir also in Dinslaken am Niederrhein ….ich habe mir den Mund fusselig geredet ….lgtani
28. Oktober 2011 um 21:04
Genau aus diesem Grund lese ich so gerne bei Ihnen, vielfältige Themen und soooooo guuuuut geschrieben.
Voll aus dem Leben mit einer Prise Humor
Ich bin Ihnen eine treue Leserin
Michaela
28. Oktober 2011 um 21:28
Sehr gut!
Und genau deshalb gibt es Paare, die im Café einfach mal dasitzen und nicht sprechen. Die haben kein Beziehungsproblem, sondern einfach viele Kinder ;-)
29. Oktober 2011 um 05:10
Jaja, so ist das. ;o)
Aber WIE(?) kann man bei „Tempo kleine Schnecke“ verlieren, hä?
DAS würde ich jetzt gerne mal wissen…
LG
Die NähMa!
29. Oktober 2011 um 07:17
liebe Frau Mutti, herzlichen Dank wieder ein mal für den amüsanten Einblick in Ihren Alltag!
Ich fühle mich erkannt und verstanden.
Herzlichst Regine
29. Oktober 2011 um 08:13
Hier sagen wir „Fusseln“. Inhaltlich bleibt´s genau das Gleiche.
29. Oktober 2011 um 08:48
Liebe Frau äh mutti,
ich würde mir ernsthaft überlegen, ob sie darüber nicht tatsächlich ein Buch schreiben.
Ich liebe Ihre Texte und bin immer sehr erleichtert, dass auch andere Mütter die gleichen Probleme haben.
Auch mein Mund ist franselig (5 Kinder zwischen 14 und 25) ich habe immer gesagt, ich nehm eine Kassette auf, damit ich nicht alles sagen muss!
Und ich dachte immer es wird besser, wenn sie älter werden, aber glauben Sie mir, es werden nicht weniger Fransen, sondern einfach „andere“!
Ich werde Ihren Blog weiter genießen!
Liebe Grüße Gisela
29. Oktober 2011 um 10:58
Auf den Punkt gebracht *gg*, wunderbar. Allerdings muss ich noch hinzufügen, dass mein Tochterkind auch gerne Fransen am Mund hat, weil eben jener einfach nie stillsteht. Nur beim schlafen – und selbst da redet er manchmal ..
Liebe Grüße von -fast um die Ecke – heute Vormittag alleine daheim – und daher ohne Fransen am Mund und ohne Schnitzel am Ohr ;-D
29. Oktober 2011 um 11:49
Jep, Fransen am Mund – kenne ich. Wenn etwas oft wiederholt wird, kann man auch von der „Bartwickelmaschine im Keller“ sprechen, weil die Geschichte (oder Aufforderung oder Ermahnung usw) schon einen ellenlangen Bart hat.
Zuhören fand ich aber auch manchmal ermüdend, wenn die Tochter JEDEN Mittag ausgiebig von den erschröcklichen Dingen berichtete, die sich in der Schule zugetragen hatten.
Eine schönes Wochenende und weiterhin viel Spass mit dem Franz, Brigitte
29. Oktober 2011 um 12:44
oh man frau mutti sie sprechen mir so sehr aus der seele
und jetzt diese pupertät, man redet und redet und irschendwie hat man das gefühl selbstgespräche zu führen, ständig diese dejavu´s
29. Oktober 2011 um 20:12
Schön geschrieben!
Ich fühle mich auch getroffen, selbst wenn ich unsere Kleine nicht so oft um mich habe, wie ich mir das wünschen würde – wenn nach einem hochkommunikativen Berufstag dann das Kind bis zur Schlafenszeit „besprochen“ worden ist, gehen dann auch mir irgendwann die Worte aus.
30. Oktober 2011 um 13:24
Danke, schön geschrieben. Ich bin noch in der Mitte, beim Vorlesen, aber noch nicht selber lesen. Und sehr serh müde, und Fransen, fusselig reden usw. kennt glaub ich die ganze Republik.
Und habe gerade gelseen, man soll die kinder nicht mit so vielen Worten erzeiehn, merh Empathei und so. Ob das gegen die Müdigkeit hilft?
Schöner Beitrag, wie immer liebe Frau-äh.Muti!
LG, SAbine
30. Oktober 2011 um 17:37
Klar gibt es diesen Ausdruck auch im Ruhrgebiet.
Wenn ich erkältet bin und keine Stimme habe, ist das Bloggen echt eine super Alternative, lach.
Noch einen schönen Rest-Sonntag wünsche ich
30. Oktober 2011 um 20:07
Und dann wundern sich die Männer, wenn wir Frauen soviel reden. Wir sind einfach in Übung.
Schließlich heisst es: Übung macht den Meister.
30. Oktober 2011 um 21:11
Yes! Am besten finde ich „Mach die Tür zu – Lass die Tür auf“ :o)Hundertmillionentausenmal.
Vielleicht sollte man zu Hause auch mal nur noch schriftlich verkehren, dass schont die Stimmbänder.
30. Oktober 2011 um 22:23
Abends auch hier stumm.
Oder bloggen.
Auf keinen Fall telefonieren….
*
Und morgens steht die Redemaschine wieder am Bett – alles auf Start….
30. Oktober 2011 um 23:05
Liebe Frau..äh..Mutti,
sammeln Sie doch Ihre Texte in einem Buch.
Es wird ein Bestseller, davon bin ich überzeugt.
Es ist immer wieder sehr unterhaltsam bei Ihnen zu lesen.
MfG
31. Oktober 2011 um 06:23
das war mal wieder eine herrliche „Einlage“. Sie sind mir schon richtig ans ♥ gewachsen. lg von der Bergstraße
31. Oktober 2011 um 09:03
Wissense Frau…äh…Mutti,
ich finde das beruhigend, dass es anderen genauso geht wie mir. Wir sind zwar erst bei Punkt 2, aber ich will auch schon nie wieder irgendwas sagen, telefonieren ist mir mittlerweile sehr zuwider, aber schreiben…. schreiben geht immer!
Ihre Mama007
1. November 2011 um 11:20
Genauso isses, deswegen hier nur ein wort zu ihrem Text: perfekt!
1. November 2011 um 12:49
Jepp hier auch. Ich red mir allerdings den Mund fusselig und meine sind noch nicht in der Schule das klommt im nächsten Jahr. Ich hab mir schon überlegt so die Standartsätze auf zu nehmen und immer ab zu spielen
2. November 2011 um 11:11
Einfach wunderschön beschrieben. Ich danke dir für diese Worte, die mir ein Lächeln auf mein Gesicht gezaubert haben. Ich werde daran denken wenn meine Kinder nachher aus der Schule kommen und ich mir wieder „den Mund fusselig sabbeln“ wie wir hier zu sagen pflegen…