Früher
1. Juni 2006
Ich bin fünfzehn.
Den Blick in den Spiegel meide ich weitestgehend, denn ich bin seit knapp zwei Jahren geschmückt mit orthopädisch-unterstützenden Teilen aus Hartplastik und Metall. In meinem Mund steckt eine Zahnspange, zwei Bügel die links und rechts aus den Mundwinkeln ragen. An den Bügeln sind zwei zehn Zentimeter lange Federn befestigt, die zu einem Band führen, das quer über meinem Kopf liegt. Spontane Kieferluxation durch Überbiss lautet die Diagnose. (Kiefer kugelt beim Kauen aus)
Um meinen Hals liegt ein Metallring, der im Nacken wie eine Kopfstütze gebaut ist, gepolstert mit Leder. Unter dem Kinn eine Stütze aus weißem Plastik. Im Nacken verschwinden unter der Kopfstütze zwei Metallstangen im T-Shirt, unter der Kinnstütze eine weitere. Zöge man das T-Shirt nach oben, gäbe es keinen niedlichen BeeDeesBH zu sehen, sondern ein körpernahes Baumwollhemd (Schlauchware mit individuell eingeschnittenen Armlöchern, murrend von der Krankenkasse bezahlt). Darüber Hartplastik in weiß. Vorne vom Schambein bis unter die Brust, zwischen den gerade wachsenden Brüsten die Metallstange, an der Metallstange ein breites Lederband, das unter der linken Achsel hindurch nach hinten führt. Hinten Hartplastik von der Mitte des Hinterns bis unter die Schulterblätter, dort beginnen die Metallstangen. Boston-Korsett mit Milwaukee-Aufsatz nennt sich das. Diagnose: links-konvexe Lumbalskoliose, Thorax rechts. (Wirbelsäulenverkrümmung)
Unter dem Hartplastik und unter dem Druckschutzschlauchhemd sind offene Stellen, in der Taille und an den Rippen. Zwischen den Brüsten und an den Hüften. Da wo das Hemd Falten geschlagen hat, reibt das Plastik unbarmherzig. Die Kante des Korsetts ist gerade, beim Hinsetzen quetscht sich immer mal ein bißchen Hinternspeck am Stuhl blau. Oder blutig.
Ein sanfter Duft nach Lebertran umweht mich. Das Spray, mit dem ich die Druckstellen einsprühe, heisst Mirfulan und besteht aus Zinkoxid und Lebertran.
Ich bin damals 172 cm groß, wäre aber eigentlich fünf Zentimeter größer. Diese Zemtimeter bin ich schief gewachsen. Ich wiege unter 60 kg, Tendenz fallend, denn essen kann ich nicht. Das Korsett drückt auf den Magen.
23 Stunden am Tag begleitet mich mein Panzer, nachts stört er am wenigsten, denn dann schlafe ich und träume von der Tanzstunde, die nur meine Klassenkameradinnen besuchen. Eine Stunde am Tag habe ich, um mich zu waschen, zu dehnen, die Haut zu pflegen. Und um Krankengymnastik zu machen, auf dem Wohnzimmerboden. Manchmal mogele ich und schlafe ein bißchen, eng zusammengerollt, die Knie unter dem Kinn, weil das geht ja sonst nicht.
Wenn ich etwas vom Boden aufheben will, muss ich in die Hocke gehen und tasten. Als ich siebzehn bin, muckt mein rechtes Knie. Diagnose: Patellaluxation nach medial. (Kniescheibe kugelt aus) Ich laufe sechs Wochen mit Krücken. Dafür wurde die Aussenspange durch ein fest angeklebtes Modell ersetzt. Trotzdem begleiten mich meine drei K´s noch einige Zeit: Korsett, Krücken, Krüppel.
Das Knie wird operativ stabilisiert und als eingeschränkt funktionstüchtig erklärt. Es wird mir abgeraten einen Führerschein zu machen, da beide Knie Zeitbomben sind.
Die Spange wird entfernt und der Zahnarzt reibt sich die geldgierigen Hände, denn der Kleber hat den Zahnschmelz ruiniert.
Das Korsett wird entwöhnt, denn ich bin bei meiner Endgröße von 178 cm angekommen. Dafür wächst mein Bauch. Ich sehe aus, als sei ich im sechsten Monat schwanger. Ich esse riesige Mengen, einfach weil sie wieder reinpassen. Die vernachlässigte Bauchmuskulatur wabbelt durch die Gegend. Da hilft nur konsequentes Training, welches zum Glück auch Wirkung zeigt.
Die letzten Wunden heilen ab, einige Narben bleiben.
1. Juni 2006 um 12:58
Es war bestimmt keine leichte Jugend? – meine Tochter ( inzwischen 21) trug von ihrem 4ten bis zum 14 Lebensjahr ebenso ein Korsett – wir verfluchten es, und … die OP mit 14 musst trotzdem gemacht werden. Der Chefarzt meinte trocken na das Korsett hätte es auch nicht gebraucht… 10 Jahre umsonst? Anscheinend !!
Sei dir gewiss – ich kann dir nachfühlen!
LG von der Eismaus
Antwort von Frau … äh … Mutti:
Das habe ich später dann auch gehört, dass es das Korsett nicht gebraucht hätte. Lieber intensivere Krankengymnastik. Seufz.
1. Juni 2006 um 15:26
Oh je, du Arme, das hört sich ja absolut fürchterlich an!!! Ich hatte zwar auch jede Menge Zahnspangen – ich war das Versuchsobjekt für neue Modelle in der Frankfurter Zahnklinik – aber deine Erlebnisse sind ja echt schlimm. Und das auch noch in einer Zeit wo Mädchen zur Frau wird und ganz andere Interessen und Sorgen hat.
Das wünscht man wirklich niemanden.
LG Sternenstaub
Antwort von Frau … äh … Mutti:
Versuchsobjekt für Zahnspangen ist auf der Liste der "Dinge, die man mal erlebt haben muss" garnatiert ganz wiet hinten. Brrr. Gruselig!
1. Juni 2006 um 17:04
Gut zu wissen, dass trotz dieser ganzen Geschichte drei wunderschöne Kinder und ein wacher Geist in Deinem jetzigen Leben vorzufinden sind!!!
Was die Zeitbombenknie mit dem Führerschein zu tun haben, habe ich aber trotzdem nicht verstanden.
Und Zahnschmelz: Seit Jahren versuche ich zu beweisen, dass die damals angewandte Methode die Zähne zerstört hat… endlich sagt mal jemand dasselbe wie ich.
Coole Zeckenzange. Musste gleich lachen, sie wirkt so plastisch dass man sie vom Monitor pflücken möchte.
In diesem Jahr habe ich sie noch nicht oft gebraucht, da meine Dackeldame ja nun einen halben Meter tiefer als früher im Garten liegt. Und die Fische blieben noch verschont…
LG anabel
Antwort von Frau … äh … Mutti:
Danke für den wachen Geist, für die wunderhübschen Kinder bin ich ja nicht allein zuständig :-)
Die Sache mit den Zeitbomben: beide Knie sind wackelig un instabil, d.h. die Kniescheiben können sozusagen jederzeit luxieren. Würde das beim Autofahren passieren, wäre das sehr ungünstig, da mein erster Griff sicher nicht zum Warnblinker sondern eher zum betroffenen Knie ginge. Jetzt verstanden?
1. Juni 2006 um 20:16
Laß dir sagen, es geht alles vorbei und in ein paar Jahren hast du alles vergessen. Vor über 15 Jahren hatte ich auch ein Stützkorsett und eine Zahnspange. Beide war ich nach 1 bis 2 Jhren wieder los…. und dannach schaut man sich auch gerne wieder in den Spiegel….
Gruß Corinna :cool:
Antwort von Frau … äh … Mutti:
jep, ich schau gerne in den Spiegel, weil meine Geschichte jetzt auch zwanzig Jahre alt ist.
1. Juni 2006 um 20:24
Hey, jetzt können Se auch mal PFFFF machen, wenn ich Ihnen nämlich erzähle, daß ich Neurodermitis und Heuschnupfen hab.
;)
Antwort von Frau … äh … Mutti:
wie schön! Darf ich mal, nur so zum Üben? Pffff. Hm. Macht Spaß :-)
21. November 2007 um 11:09
Ich trage auch ein solche Milwaukee-Korsett, es soll meine Wirbelsäule wieder gerade machen, ich habe skoliose und Kyphose bis in den Halsbereich.
Erst sollte es ein Cheneaukorsett werden, dann haben die Ärzte aber doch eins mit Halsring für besser gehalten, jetzt stecke ich in diesem scheußlichen Gestell, kann mich nicht bücken und bewegen, der Halsring ist die Hölle, der reibt und drückt wenn ich nicht kerzengerade bin.
Ich dachte ich bin die einzige die so ein Ding tragen Muß