Meine Stadt?

28. Mai 2013

Im Juni ist es so weit: Nierstein wird eine Stadt.
Für unseren Ortsbürgermeister ist das ein echtes Fest, denn dann ist er endlich ein echter Bürgermeister, ganz ohne „Orts-“ und das hört sich gleich viel besser an.
Für die Winzer ist das ganz schön blöd, denn bisher machten sich Prospekte mit „Nierstein, die größte Weinbau betreibende Gemeinde am Rhein“ eigentlich sehr gut. Ab Juni sind wir dann eine eher kleine Weinstadt. Neue Prospekte werden fällig. Neue Ortsschilder auch, die alten sind teilweise schon weg. Souvernirjäger? Der Gemeindepark wird ein Stadtpark und warum nicht gleich Nierstadt statt -stein?
Mir ist es ziemlich egal, ob ich in einer kleinen Stadt oder einer großen Gemeinde lebe, Nierstein ist mir sowieso ans Herz gewachsen. Leise hoffe ich, dass wir vielleicht einen Markt bekommen, Städte bekommen schließlich ein Marktrecht.

Leider ist es aber so, dass Nierstein eine dieser typischen Städte wird: hübscher, aber toter Ortskern, etliche große Neubauviertel, in denen sich Architeken mal so richtig austoben dürfen und eine Supermarktmeile am Rand. Aldi neben Netto, ein weiterer Markt ist schon genehmigt, Rossmann und Kik werden gerade gebaut. Ausgerechnet Kik, aber billig geht eben immer.
In der Ortsmitte steht das Gebäude eines Supermarktes leer, es verfällt, keiner will es anmieten. Neubauen ist billiger als Sanierung. Die älteren Einwohner, die nicht mehr gut zu Fuß sind, werden dort mit einem Bus abgeholt und zweimal die Woche „zum Aldi raus gefahren“. Spontanes „ich brauch noch ein Päckchen Butter“-Einkaufen ist kompliziert geworden.
Ein Bäcker hat geschlossen, zwei weitere so wie drei Metzger harren stur aus. Zwei Obst- und Gemüselädchen können nur bestehen, weil das Ladengeschäft in Eigenbesitz ist. Etwas außerhalb gibt es einen Bioladen, der nur überlebt, weil er Gemüsekisten ausliefert. Es gibt den Weltladen, in dem ich ehrenamtlich arbeite. Und neben mir über zehn weitere ehrenamtliche Mitarbeiter, in einem Ladengeschäft, für das wir eine echte Freundschaftsmiete zahlen.
Zwei Blumenläden gibt es, weil gestorben wird immer, die haben zu tun. Ein Orthopädiefachgeschäft, in dem auch Schuhe repariert werden. Ein Polsterer, der mit seiner Frau zusammen einen klitzekleinen Laden hat, der bis unter die Decke vollgestopft mit Wolle, Kurzwaren und Stoffen ist. Es gibt „die Bäuerliche“, ein Raiffeisenmarkt, in dem es von Wäscheklammer über Hühnertränke, Saatgut, Blumenerde, Gartenwerkzeug bis Gift gegen und Dünger für alles … einfach alles gibt. Auf dem Marktplatz dümpelt ein Elektro/Computerladen vor sich hin, gegenüber steht „Kunst“ im Schaufenster, ich bin nicht sicher, ob das ein Laden ist. Und ein Stückchen außerhalb gibt es den „Hier gibt’s alles“-GeschirrBücherSpielzeugKinderklamottenFarbenLackeSchreibwarenladen. Zwei Apotheken, zwei Optiker, vier Frisöre. Fertig. Nierstein hat 8000 Einwohner und kein Leben mehr in sich.

Die Gastronomie brummt. Immerhin. Die Straußwirtschaften der Winzer sind voll, in manchen Restaurants muss man rechtzeitig reservieren. Jährlich eröffnet an irgendeiner Ecke eine Pizzeria mit Döner und griechischem Salat „to go“, doch die verschwinden genauso schnell wieder, wie sie kommen. Ein hübsches Café gibt es leider noch immer nicht, obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass das eine Goldgrube wäre, gerade im Sommer.

Nierstein ist ein großer Touristenmagnet. Es liegt ja auch sehr idyllisch da am Rhein, in den Weinbergen lässt es sich gut spazieren und der Wein ist wirklich prima. Und wer ohne sich anstrengen zu müssen Weinberge, Rheinblick und Wein gleichzeitig genießen will, der setzt sich auf einen Hänger und lässt sich von einem Traktor ziehen. Weinbergsrundfahrt nennt sich das und selbst die Einheimischen fahren da gerne mit. Es gibt eine Menge Geschichte, weil der erste dokumentierte Wingert noch immer unterhalb der katholischen Kirche bepflanzt wird. Und weil der weltberühmte Rote Hang nicht nur edlen Wein wachsen lässt, sondern auch ab und zu versteinerte Seekühe ausspuckt, die in einem niedlichen paläontologischen Museum ausgestellt werden. Die Franzosen waren da und haben ein bißchen Sprache da gelassen und wer Glück hat, findet Münzen von Napoleon. Oder Spuren der Römer. Oder einen versteinerten Haifischzahn.
Touristen sind also gerne da und ich führe meine Besucher auch gerne in lauschige Ecken und erzähle ihnen, dass die Uttrichstraße eigentlich Käsgass heisst.

Und trotz der vielen an Nierstein interessierten Menschen gibt es nicht mal ein Schnickeldi-Lädchen für kleine Andenken. Aber einen kik. Wie originell.

9 Kommentare zu “Meine Stadt?”

  1. elbequeen sagt:

    Liebe Frau Mutti, da weiß ich ja jetzt, womit Sie sich verwirklichen, wenn die hinreißenden Bestien gänzlich außer Haus sind: Mit einem schnuckeligen Café, in dem man ein bisschen schönes Schnickeldi und nicht-peinliche Souvenirs kaufen kann. Vielleicht selbstgenähte? ;-)
    Lieben Gruß aus dem doch sehr städtischen und touristischen Dresden!
    Regina

  2. Anita sagt:

    Liebe elbequeen,
    Ich glaube, wenn das was du da vorschlägst finanziell und organisatorisch zu verwirklichen wäre, dann hätte Frau …. Mutti das sicher schon gemacht! ( obwohl ich sie nicht persönlich kenne, wage ich mal diese Behauptung!)
    Meist ist das verschiedenen gründen geschuldet, hohe Mieten, Bürokratie usw….

  3. Indica sagt:

    Ich schließe mich sofort begeistert dem Vorschlag der elbqueen an. Und was meinen Sie, wie eine ganz andere Art von Tourismus zusätzlich brummen würde, wenn wir alle zur „hometown of the famous frau … äh … mutti“ reisen würden!

    Ich finde, das sollte der numehrige Bürgermeister, (formally known as Ortsbürgermeister) sofort auf seinen neuen Schildern übernehmen! „Nierstein – hometown of the famous frau … äh … mutti“. Tschuldigung, hier gehen die Nonsensmarketing-Gäule gerade mit mir durch! ^^

  4. Antje sagt:

    Gibt es das gelbe Jeans-Outlet-Dingen nicht mehr? Das war der einzige Laden in Nierstein den ich kenne/kannte?

    Vielleicht ein paar gleich gesinnte „Muttis“ finden und ein „Cafe Schnickeldi“ aufmachen ;)

  5. jukefrosch sagt:

    Das erinnert mich an meine eigene Heimatstadt.
    Knapp über 9000 Einwohner, grade erst wird 650 Jahre Stadtrecht gefeiert.

    Hat was zu bieten? Ein hübsches Jagdschloss und immerhin sieben Hügel, so wie Rom. Und eine große Schokoladenfabrik mit Verkauf etwas außerhalb, wo die Touristen busweise hingekarrt werden.

    Ansonsten? Massenhaft Friseure, ich habe das Gefühl, jedesmal wenn ich dort bin, hat wieder einer mehr aufgemacht. Und Apotheken. Dazu massig leerstehende Geschäfte.

    Werbung wird groß dafür gemacht, wie toll man dort einkaufen könne. Oh ja, ganz toll.

    Die Stadtbücherei erobert das Städtle, mit angeschlossenem Eine-Welt-Laden, meine Mutter arbeitet für kleines Geld dort, so schließt sich der Kreis.

    Ganz so mau, wie bei Ihnen beschrieben sieht es insgesamt nicht aus, aber würden nicht meine Eltern dort wohnen, mich würde nur die Schokoladenfabrik anziehen…

  6. Frau Ladybird sagt:

    Der Name „Café Schnickeldi“, genial, schon mal schützen lassen, liebe Frau Mutti. Ich komme bestimmt vorbei, wenn das Café eröffnet wird …

    Bin gelegentlich in Wörstadt, die haben die „stadt“ im Namen, aber auch kein Stadtleben. Innenstädte sterben auch andernorts und das ist sehr traurig.

    Liebe Grüße vom linken Niederrhein.

  7. anne sagt:

    guten tag

    ich lese hier lange schon mit und manchmal gerne, manchmal weniger – aber das ist ja immer meine entscheidung ob ichs tue;-)

    allerdings geht es grad nicht auf mit dem vorderen beitrag….
    da zeigen sie gefärbte „in“ schuhe. haben sie mal ein klitzekleines bisschen recherchiert wer die „über“firma ist (nike) und unter welchen bedingungen diese schuhe hergestellt werden? hm?
    keinen, aber auch wirklich keinen deut besser sind die als kik.
    bloss daß kik keine solche marche drauf setzt wie der grosse nikekonzern. und kik ist auch deshalb günstiger, weil nicht abermillionen in werbung von schon millionenschweren sport-film-musikstars fliessen – um damit wiederum zu steuern was „trendig/kultig“ ist.

    sorry… aber dieser kritische einwand mußte sein, zumal ich den eindruck bekomme es sei ihnen ein anliegen ein hauch bewußt zu leben.
    nichts für ungut und sie brauchen auch gerne diesen beitrag nicht veröffentlichen.
    anne

  8. Nicole sagt:

    Nun, zur Beruhigung kann ich sagen, dass die Autobahnschilder mit der Aufschrift Nierstein noch da sind, heute live auf dem Weg zur Arbeit überprüft ;-) Die hat keiner geklaut.
    Und sonst? Meine Heimatstadt, deutlich mehr als doppelt soviele Einwohner als Nierstein. Was haben wir zu bieten? Leere Läden, leere Läden und noch mehr leere Läden, daneben Sonnenstudios, Döner-Laden, Wettbüros, Friseure und seit neuestem – MITTEN auf dem Marktplatz, ein „Gold-an-und-Verkauf-Laden“. Das hat mir wirklich fast das Herz gebrochen auf dem wirklich sehr idyllischen Marktplatz so ein Grauen. Aber mich fragt ja keiner.
    Und die Discounter-Ketten finden sich hier auch alle, Tür und Tür und seit ein paar Monaten auch ein KiK.

    Also, auch hier, nicht erbaulich.

    Ich bin daher ebenfalls für das „Cafe Schnickeldi“

    Liebe Grüße
    Nicole

  9. Birgit B. sagt:

    Gegen Nierstein ist unser Ort mit 22.000 zwar eine „Grossstadt“, aber auch hier sterben die kleinen Läden, da auf der grünen Wiese Einkaufszentren gebaut werden.
    Aber es sind ja alle mitschuld, dass die kleinen Läden sterben, denn wir alle sind es ja, die zu den Einkaufszentren fahren, preiswerter, alles unter einem Dach, genug Parkfläche.
    LG Birgit