Es war mir von vornerein klar: ich würde die beste Gastmutter aller Zeiten sein. Immerhin hatte ich mein Nähzimmer zur Verfügung gestellt, dieses nicht nur ordentlich aufgeräumt und mit neuen Vorhängen aufgerüscht, sondern auch noch einen Strauß duftender Pfingstrosen aus dem Garten hineingestellt. Ich hatte ein hübsches Namensschildchen für das Handtuch im Bad gebastelt und einen Kuchen gebacken. (= backen lassen,vom besten Vater meiner Kinder einen Käsekuchen, von der Tochter einen Schoko-Nuss-Kuchen). Das Haus blitzte und blinkte und ich war mir völlig sicher, dass ich/wir der amerikanischen Austauschschülerin eine wunderbare, unvergessliche Zeit bereiten würden.

Hochmut kommt vor dem Fall. Diese blöden, alten Sprüche, in denen meist mehr als ein Körnchen Wahrheit steckt. Es kam nämlich alles ganz anders.

Als die Tochter mir kurz vor Anreise der Gasttochter erzählte, dass deren Haus nicht nur etwa dreimal so groß wie unseres, sondern auch eher schnickeldifrei sei, war ich kurz in Versuchung, ein paar Umzugskartons zu befüllen und in der Halle zwischenzulagern. Tat ich nicht, so sieht es eben bei uns aus: ein bißchen viel Kram überall, Liebgewonnenes, Erinnerungsträchtiges und dazwischen die Sachen, die da halt stehen.

Die Gasttochter reiste an.
Der Jet-Lag ist eine fiese Socke, wir zeigten ihr ihr Zimmer samt dem Bett, in welches sie dankbar sank. Gegen 16:00 Uhr allerdings schmiss ich sie unsanft wieder raus, immerhin sollte sie in unseren Rhythmus rutschen. Fand sie doof, kann ich verstehen. Ich erklärte ihr, dass sie vor 20:00 Uhr besser nicht mehr schlafen solle und die Tochter schleppte sie, nach einem Teller Spaghetti Bolognese, auf einen kleinen Spaziergang zum Rhein, die Hochwasserreste bestaunen. Danach gab es einen Film und kurz nach 20:00 Uhr durfte sie endlich wieder in ihr Bett.
Bis dahin hatten wir ca. fünf Sätze neben den erklärenden und vorstellenden Worten gewechselt.

Und sehr viel mehr ist es bisher auch nicht geworden. Die Gasttochter ist eher still und zurückgezogen, auch räumlich. Wenn wir sie nicht zu Unternehmungen zerren, liegt sie auf ihrem Bett. „I’m fine!“, sagt sie. Oder „I don’t care.“ „I’m not hungry.“, was ich ihr nicht glaube, ich denke, es schmeckt nicht. Weder die Tochter noch ich dringen zu ihr durch. sie interessiert sich für nichts,stellt keine Fragen, hat keine Wünsche. Und wir hampeln immer mehr, um ihr eine Reaktion zu entlocken.
Die Tochter ist mehr als erstaunt und äußerst verunsichert, denn sie hat sie in Amerika als ganz anderes Mädchen kennengelernt. Und sie schrieben sich beinahe täglich mails. Jetzt scheint da … nichts … zu sein.
Gestern trafen wir Tochters Freundin, bei der ebenfalls eine Austauschschülerin wohnt. „Ich hab keine Ahnung, was ich mit ihr noch machen soll, sie hat macht alles mit, hat aber eigentlich auf nix Lust.“, erzählte diese, genauso verunsichert wie die Tochter. Die beiden amerikanischen Mädchen zogen gemeinsam los, die beiden gastgebenden Mädchen ebenfalls und der beste Vater meiner Kinder und sein holdes Weib blieben etwas ratlos zurück. Gemeinsam mit der Tochter haben wir Dinge ausgesucht, die uns Spaß machen und die wir gerne teilen möchten. Doch weder die Stijlmesse in Mainz, noch das örtliche Parklichterfest oder das mittelalterliche Treiben in Oppenheim trafen den Nerv.

Es passt überhaupt nicht zusammen.

Immerhin bin ich so weit, mich nicht mehr schuldig zu fühlen. (nur noch ein bißchen)

Heute reist sie mit 20 weiteren Ausstauschschülern und -schülerinnen, Richtung Süddeutschland bis Salzburg, Freitag kommt sie wieder. Danach gibt es von der Schule ausgesuchtes Programm, uns bleiben letztlich nur noch fünf Tage, die wir mit „so leben wir“ füllen können.

*****

Ich kann mich gut daran erinnern, als ich nach Amerika reiste. Ich war zwanzig und war in St. Louis mit einer Klassenkameradin verabredet, mit der ich bei deren ehemaligen AuPair-Eltern wohnen sollte. Nach einem sehr holperigen Flug mit viel Aufregung und Warterei und Rennerei zum Anschlussflug, nach knapp 23 Stunden Reisezeit, fiel ich dort ins Bett und kam etwa drei Tage nicht mehr heraus. Überwältigt von Müdigkeit und Fremdfühlen, von Unsicherheit und einer Sprache, die so anders klang als die, die ich in der Schule gelernt hatte.
Heimweh hatte ich keines, doch seit dem habe ich mich nie mehr irgendwo so fremd und fehl am Platz gefühlt.

Wenn es meiner Gasttochter genauso geht, dann tut sie mir von Herzen leid und ich hülfe ihr so gerne raus aus diesem Loch. Wenn sie das möchte.

Sie meinen das nicht ernst, oder? Ich soll Gleiches mit Gleichem vergelten, Auge um Auge, Zahn um Zahn? Ich soll kriminelle Energien mobilisieren, terrorisieren und zurückschlagen?

Ich soll das tun, was ich gerade verurteilt habe?

Mal ehrlich. Würden Sie das tun?

Spinnen wir mal rum: Wir nerven die Nachbarn mit lauter Musik. Was werden die wohl tun? „Entschuldigung, Sie haben ja recht, wir waren echt zu laut!“ sagen und von Stund an nur noch die Musik hören, die wir alle mögen, aber am Liebsten in Zimmerlautstärke. Wahrscheinlicher werden sie noch ein Stückchen aufdrehen. Und wo ist das Ende der Fahnenstange?

Ich soll das Geschrei aufnehmen und es ihnen vorspielen? Wie würden SIE reagieren, nähme man sie auf, in Ton und Bild, ungefragt, nachspionierend? Sicherlich würden Sie nicht nachdenklich werden, sondern schlicht … sauer.

Stellen Sie sich mal vor, ich würde dort ein Fenster einschmeissen, weil ich vor lauter Wut und Hilflosigkeit keinen anderen Weg sähe. Und glauben Sie mir, ich spielte mit dem Gedanken … was wären die Konsequenzen? Ich hätte eine Straftat begannen, für die ich zahlen müsste. Und wegen der ich vor Scham im Boden versinken würde.

Es ist leicht, voller Wut sich Sachen auszumalen, „denen mal zu zeigen, wie Scheiße sie sich benehmen“. Vergessen Sie aber nicht, dass ich drei Kinder habe, denen ich ein Vorbild sein möchte. Was genau würden diese Kinder von mir lernen? Derzeit lernen sie, dass wenige Menschen viele unglücklich machen können. Willkommen im wirklichen Leben.

Es muss einen Weg geben, fern der „Rache“.

*****

Es ist völlig unangemessen Presse/Medien zu informieren. Sicherlich möchten wir nicht vorgeführt werden. Und dies auch niemanden anderen zumuten.

Nierstein ist jetzt eine Stadt. Am letzten Freitag war die feierliche Urkundenüberreichung, festliche Reden wurden geschwungen, Danksagungen ausgesprochen und das Festmahl war köstlich. (ich hatte zwei Gläser Wein zuviel.)

Wie es sich für eine Stadt gehört, gibt es auch in Nierstein einen sozialen Brennpunkt. Und weil Nierstein eine kleine Stadt ist, handelt es sich beim sozialen Brennpunkt auch nur um ein einziges Haus samt seiner acht, neun, manweißesnichtgenau Bewohner. Ich schrieb bereits darüber, ich steckte verbale Prügel in Form von Kommentaren ein und schreibe es trotzdem wieder auf: das Leben in der Grünen Villa ist nicht mehr schön, denn es ist Sommer.
Im Sommer öffnen die Menschen Türen und Fenster, halten sich draußen auf, arbeiten im Garten, essen an der frischen Luft, lauschen dem Vogelgezwitscher und schauen sich spät abends an, wie hübsch die Sterne funkeln.
Wir tun das nicht mehr, denn Sommer bedeutet für uns, dass wir ungefiltert durch gnädige Fenster und Türen aktiv am Nachbarleben teilhaben dürfen. Wir dürfen zuhören, man sich gegenseitig anschreit, wissen mittlerweile, dass „Kurva!“ universal eingesetzt werden kann, kreativ auch gerne als „Kurvarschloch!“. Wir sind beinahe amüsiert, wenn die Mutter ihre fast erwachsenen Söhne als „Hurensohn!“ beschimpft und vertrauen darauf, dass die Familienhilfe sich wirklich um die jüngeren Geschwister kümmert, die von Mutter, deren Freunden und ältern Brüdern herumgestoßen und beschimpft werden. Den Soundtrack zum Geschehen liefert Sido mit wummernden Bässen.

Alle Klischees sind versammelt und fünfzehn Menschen fühlen sich regelrecht terrorisiert. Die einen können nicht mehr auf ihrer Terrasse sitzen, weil der Nachbarmüll über die Mauer geworfen wird. Die anderen können nicht in ihrer Küche sitzen, weil sie durch’s Fenster beschimpft werden. Manche können nicht in ihren Garten, weil es aus dem Nachbargarten erbärmlich nach Hundescheiße stinkt. (Der Hund ist übrigens weggeholt worden. Immerhin.) Die eine kann nicht ihr Straßenkehrschwätzchen halten, weil sie angeschrieen wird. Ich kann mich nicht mehr draußen aufhalten, das Schreien und Schimpfen lässt mich aggressiv werden.

Wir haben uns zusammengetan. Haben ernsthaft refelektiert, ob wir überzogen reagieren. Haben Briefe und Mails an vielleicht zuständige Menschen geschrieben, haben telefoniert oder persönlich dort vorgesprochen.
Ordnungsamt, diverse Anwälte, Familienhelfer der Malteser und der Chef von allen traten auf, ermahnten streng und gingen wieder. Die Familienhelferin heulte zweimal an meinem Küchentisch über furchtbare Zustände. Ich musste sie wegschicken, sie durfte mir das doch gar nicht erzählen. Sie arbeitet nicht mehr mit der Familie, Ersatz gibt es nicht.
Vierteljährlich gibt es einen Termin zur Zwangsräumung des Hauses. Das ist lachhaft, denn die Nachbarn selbst sollen sich um eine neue Bleibe kümmern. Warum sollten sie das tun?

Ich bin müde, ich bin traurig. Durchforste die Immobilienangebote nach hübschen Häusern, doch wir werden uns ein anderes Haus in Nierstein sowieso nicht leisten können. Jedenfalls nicht eines mit Garten, irgendwo im Ortskern. Die Grüne Villa wäre schnell verkauft, ein Haus mit riesigem Grundstück ist begehrt. Leider ist das Grundstück der einzige Trumpf, das Haus selbst hat einfach zu viele Baustellen. Wir finden es charmant, doch wer zahlt schon für „charmant“.
Bleiben klitzekleine Nachbarorte, die weder Bäcker noch Metzger haben, manche nicht mal ein gescheites Internet. Dort sind die Häuser günstig.

Muss ich mich jetzt tatsächlich damit abfinden, dass es keine hübschen Sommer mehr für uns gibt? Oder wenn, dann nur in einem anderen Haus?

Wir haben übrigens einen Anwalt befragt, welche Rechte wir haben. Wir haben keine. Wir sollen nicht provozieren, um Eskalation zu vermeiden. Wir könnten vor ein Schiedsgericht ziehen, um gemeinsam an einem Tisch zu einer Einigung zu gelangen. Richter seien nur mäßig begeistert von Nachbarschaftsstreitereien, man könne sich Anzeigen sparen. Es sei denn, es gäbe konkrete Übergriffe. Oder nachweisbare Sachbeschädigungen. Nachweisbar = beobachtet und bild-dokumentiert.

„Vielleicht haben Sie ja … „Freunde“ … die dort ein bißchen energischer auftreten.“, riet er uns zum Abschied.
Oder wir suchen und hoffen weiter. Das dritte Jahr nun.

Wandern? Wandern!

3. Juni 2013

Der Sommerurlaub steht vor der Tür. Wir wollen alpines Gelände erklimmen und sind außer Übung. Außerdem hatte ich im Outdoorladen zu einem echten Schnäppchenpreis ein Paar bergfeste Wanderschuhe gefangen, die es einzulaufen galt. Und nach ca. viermonatigem Dauerregen leuchtete das helle Ding am Himmel. Es zog uns in den Wald.

Rund um Nierstein ist der Wald eher spärlich. In Oppenheim gibt es das „Wäldchen“, das nicht umsonst so heißt. In einer knappen Stunde hat man es umrundet. Derzeit kann man es übrigens durchschwimmen, das Hochwasser schwappt auch hier.

Aber nur etwas über eine Stunde Autofahrt entfernt lockt der Hunsrück. Am Donnerstag wanderten der beste Vater meiner Kinder und sein holdes Weib zur Burg Rheinstein und durch die Steckeschläferklamm (darüber berichte ich demnächst!), gestern zog es uns bis kurz vor´s Moseltal auf den Wanderrundweg „Layensteig Strimmiger Berg“. Strimmig kommt aus dem keltischen und bedeutet „abfallendes Gelände“. Und „Steig“ bedeutet: trittfestes Schuhwerk!

Wir parkten an der Pulgersmühle und marschierten von dort aus ein paar Schritte an der Straße entlang, bis es auf einen schmalen Weg in den Wald ging. Direkt bergauf, damit wir direkt wussten, was uns erwartet. Nach etwa zwanzig Schritten war mir dann klar, dass die neuen bergfesten Wanderschuhe etwa zwanzig Kilo wiegen und aus grazilen, leichtfüßigen Schritten ein eher behäbiges Stapfen machen. Nach kurzem Anstieg sah es dann so aus:

Ein gemütlicher Feldweg auf den Hügel, den es zu erklimmen galt, zu. Etwas über 300 Höhenmeter.

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