Vorneweg: die Tochter ist gut angekommen und zufrieden, Genaueres wird sie sicher selbst berichten.

Die letzten Tage und Wochen standen irgendwie alle im Zeichen des Aufbruchs. Es wurde gepackt, ausgepackt, umgepackt. Gewogen, erneut umgepackt, gewogen. Der Koffer stand im Zimmer und trotzdem war es unbegreiflich und sehr weit weg: sie geht für ein Jahr nach Afrika. Die Tochter selbst war beschäftigt und hatte keine Zeit, Ängste und Zweifel an sich herankommen zu lassen, erst in den letzten Nächten kamen diese hoch und verdarben den friedlichen Nachtschlaf.

Dann begann die Zeit der Verabschiedungen. Familie, Freunde, Bekannte, Vereinskollegen und die Menschen, die „seid du so ä klaa Päcksche warst kennisch dich und jedzd fährsche nach Afriga!“ oder Ähnliches sagten. Die Tochter kennt viele Menschen und noch viel mehr Menschen kennen die Tochter durch ihr soziales Engagement und über den stolzen Opa. Eine unbeschwerte Ablenkungsmanöver-Pokémonjagd war kaum noch möglich, weil es unterwegs viele Händedrücke, Umarmungen und guten Wünsche gab.

Und endlich oder schon war der letzte Tag in Nierstein da. Wir hatten ihn gut durchgeplant, um ihn nicht zu lang werden zu lassen. Und trotzdem, irgendwann am frühen Nachmittag stand die Tochter gleichzeitig lachend und weinend vor mir, voller Selbstzweifel, Angst und Sorgen. Und da wurde es auch mir endlich richtig bewusst: sie geht tatsächlich für ein Jahr nach Afrika. Wir umarmten uns.

Der Opa kam zur allerallerletzten Verabschiedung und vermutlich wollte er seiner Enkelin etwas Liebes tun, als er ihr (stellvertretend auch für ihre Brüder) dafür dankte, dass alle drei Woche für Woche zu Besuch gekommen seien, das habe ihm sehr geholfen. „Aber ich komme doch wieder!“, sprach die Tochter mit äußerst wackliger Stimme und der beste Vater meiner Kinder ergänzte, dass ja auch die Söhne bald wieder daheim seien. Schluck.

Wir wuchteten Koffer, Rucksack und Laptoptasche ins Auto, versorgten den gar nicht mehr so kleinen Hund mit einem „ich geh weg und du bleibst da“-Knochen. Die Tochter sagte „Tschüss, Haus!“ und wir fuhren endlich los. Endlich, weil es jetzt wieder voran ging. Kein passives Warten mehr, sondern losgehen.

Im Auto sangen wir sämtliche Lieder zum Thema Afrika, zwischendurch „hach-ten und ach-ten“ wir ein bißchen schwermütig.

Am Flughafen traf die Tochter direkt auf andere Freiwillige, sie checkte ein und gab den Koffer mit zum Glück passenden Gewicht auf. Wir standen abseits und beobachteten, wie sie lachte und strahlte, erzählte und kicherte und wir wussten: jetzt ist der richtige Augenblick für unseren Abschied gekommen. Eine Umarmung, ein Kuss und das, was man sich zum Abschied sagt, wenn man sich lieb hat.

Wir hielten uns fest an den Händen als wir gingen, aber traurig waren wir nicht. Vielleicht ein bißchen wehmütig, weil so wird das halt jetzt bei uns in nächster Zeit laufen: die Kinder werden immer längere Ausflüge machen und irgendwann lassen sie den Haustürschlüssel da.

Ich fühlte mich sehr abgeklärt und cool bis genau zu dem Moment, als mein Körper Schlaf forderte und mein Kopf mir mitteilte: jetzt sitzt sie im Flugzeug, in sieben Stunden erst wird sie landen, dann, wenn du wieder aufstehst. Ich fasse es zusammen: die Nacht war kurz und voll wildester Gedanken, obendrein hatte der gar nicht mehr so kleine Hund Durchfall von seinem Knochen und der erste Morgen ohne Tochter war dann eher doof. Außerdem kam keine „ich bin gut gelandet!“-Nachricht, als es Zeit für eine solche Nachricht gewesen wäre. Das Internet spuckte aus, dass das Flugzeug wohlbehalten gelandet war, von der Tochter selbst kam nichts.

Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, das wissen wir alle und was soll auch passieren, wenn eine Gruppe von 50 Jugendlichen, von zwei Betreuern begleitet, von zwei weiteren Betreuern abgeholt wird? Vermutlich gab es einfach kein WLAN oder keine Zeit oder das Handy wurde schon gestohlen, wer weiß das schon.

Am nachmittag wurde ich dann unruhig. Versuchte, mich über mich selbst lustig zu machen, indem ich mich daran erinnerte, wie das früher ohne Handy war. Da wartete man auf eine erlösende Postkarte oder so. Am Abend begann ich an meiner Nagelhautherumzuzupfen bis es blutete. Der gar nicht mehr so kleine Hund, dem ich mein Leid klagte, versuchte mein Gesicht zu lecken, was mich immerhin zum Lachen brachte.

Und dann kam eine SMS: alles gut, erst morgen Netz, dann mehr.

Ich schlief tief und traumlos von 22:00 Uhr bis 8:00 Uhr und habe heute morgen bereits zwei hübsche Bildchen geschickt bekommen und kurz mit meinem fröhlichen Mädchen whatsapp getauscht. Sie wird demnächst, wenn Sie Zeit und Netz hat, bloggen und ich werde entspannt atmen. Was ist schon ein Jahr, wenn es ihr gut geht?

10 Kommentare zu “Vom Cool-sein und Durchdrehen”

  1. Judith sagt:

    Hallo Frau Mutti
    ich lese immer sehr gerne Ihre Berichte und kann bei vielen Themen mitfühlen. Auch wir haben einen nicht mehr so kleinen Hund (Beagle) und in gut drei Wochen wird auch unsere Älteste (29 Jahre) für ungefähr 2 Jahre nach Cambridge ziehen. Sie wohnte schon 5 Jahre in ihrer Wohnung mit ihrem Freund, zog Ende Juli 2016 bis zum Abflug am 13. September 2016 wieder zu uns vorübergehend. Der Freund ist schon in UK an der Uni (Forscher) und sie folgt ihm eben Mitte September. Ich seh das noch ziemlich locker….noch…..denke noch gar nicht daran, wenn der Tag X dann da ist…………
    Liebe Grüsse aus der Schweiz
    Judith

  2. Sigrid sagt:

    Zum Glück habe ich noch mind. 4 Jahre bis evtl. so etwas auf mich zu kommt. Dann hat das große Tochterkind die 10. Klasse hinter sich und könnte ein Austauschjahr vor dem Abi einschieben.
    aber wer weiß schon, wasin 4 Jahren ist?
    Aber die Ungeduld kann ich dir nachfühlen.

  3. Sonja Hagedoorn sagt:

    Liebe Frau Mutti,
    und wieder eine Gemeinsamkeit – auch unsere Tochter ist jetzt für 5 Monate in Afrika zum Auslandssemester in Ghana – ich kann alles sehr gut nach empfinden. Auch hier zunächst kein Netz, jetzt WhatsApp-Nachrichten. Alles ist und wird gut. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Posts. Liebe Grüße aus dem Schwabenland. Sonja

  4. Sunni sagt:

    Tapfer gemacht!Und gut – wie immer. Das wird, bestimmt. Sie ist doch groß und hat alles mitbekommen, was sie braucht. Kopf hoch, Krone richten, weitermachen. Sie schaffen das prima!Herzlich, Sunni

  5. Keinhölzchen sagt:

    Liebe Frau Mutti,
    ich kann es Ihnen so nachfühlen! Ich muss gestehen, ganz so cool waren wir nicht, als die Abiturientin sich auf den Weg nach Neuseeland machte! Bis irgendwo über Osteuropa verfolgten wir den Flieger auf dem Laptop, bevor wir ins Bett gingen. Den Zwischenstop in Singapur nutzte das Kind glücklicherweise, um uns kurz vor dem Start mitzuteilen, dass sie bereits am Flughafen und alles ok sei. Und die Landung in Auckland verfolgten wir wieder live am Bildschirm – und dann musste ich auch nur noch auf die Mitteilung warten, dass die Aupair-Familie sie wirklich am Flughafen eingesammelt hat. Ab da war dann alles gut und das Jahr war so schnell vorbei! Herzliche Grüße aus der Wetterau – Petra

  6. PaulineM sagt:

    Liebe Frau Mutti,
    10 Jahre ist es her, dass unsere Tochter den ersten großen Sprung nach Chicago gemacht hat. Es folgten weitere lange Sprünge in die große Welt. Auch wir haben immer die Mischung aus Freude über/für unser Kind, Stolz, dass sie es sich traut, Sorge, dass ihr was passiert oder sie unglücklich ist und richtiger Angst, wenn der Kontakt mal ausblieb, erlebt. Es wird mit den Jahren nicht wirklich besser. Aber wenn sie da ist, schauen wir sie gelegentlich an und sind glücklich über diese weltoffene, tolerante und hilfsbereite junge Frau. Sie wäre heute nicht die, die sie ist, wenn wir nicht gewagt hätten sie loszulassen. Heute lassen Sie viel los, aber Sie werden viel mehr noch zurückbekommen.

  7. Eva sagt:

    Hach scheisse, Pippi inne Augen.
    so isset mit den flügge werdenden Kids!
    Du bist mir ein extrem gut tuendes Mutterbeispiel!!!
    Liebe Grüße aus Düsseldorf. …. die sind hier auch schon so gefährlich groß, die 3

  8. aprikaner sagt:

  9. Bine sagt:

    Wie aufregend!!! Ich erinnere so eine Geschichte aus Sicht der Tochter. Vor ca. 20 Jahren. Da gab’s auch keine Handys und kein WhatsApp. Und wahrscheinlich hat meine Mama auch an ihrer Nagelhaut gepiddelt, während ich einen riesen Spass in der Gruppe Mädels hatte… weit weit weg von zu Hause. Heimweh gab’s auch, aber sehr selten.
    Ich wünsche mir, dass meine Kids auch einmal diese tolle Erfahrung machen und gleichzeitig weiss ich schon heute: ich werde schlecht schlafen und an der Nagelhaut piddeln. ;-)

  10. Petra sagt:

    Hallo liebe Frau Mutti, ja leider nicht ganz einfach, wenn sie in die weite WeLt ziehen. Gestern ist die zweite Tochter ausgezogen, die Große lebt schon länger in Spanien. Zum Glück gibt es Flugzeuge. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Tochter alles Gute. Petra