#hirnfrei
6. Februar 2018
Vor ein paar Tagen habe ich bei Instagram Bilder mit #cleaneating und #healthyfood getagged. Einmal ein Pott Petersilie mit einer Zitrone, einmal eine Schüssel Vanilleflammeri mit Schokostreuseln. Das brachte mir zehn neue Follower (Fitnessaccounts) und einen Kommentar: „nice work!“ (gelöscht!) Die Fitnessaccounts sind von selbst wieder von dannen gezogen, wahrscheinlich bitter enttäuscht, weil ich „die Sache“ nicht verstanden habe.
„Die Sache“ ist die perfekte Ernährung. Es gibt mehrere perfekte Ernährungen. Im Fitnessbereich braucht es wahnsinnig viel Protein in Form von Pulvern, Riegeln oder, ich staunte sehr, Pralinen. Wer fit ist oder werden will, der isst nicht, der sublementiert. Nahrungsergänzungsmittel sorgen für die ausreichende Zufuhr von Vitaminen und Spurenelementen, ein Leistungsinstagramer braucht das für den gestählten Sixpack und einen booty, mit dem sich Nüsse knacken lassen.
Perfekte Ernährung ist aber auch, ganz „clean“ zu essen. Keine verarbeiteten Lebensmittel. Klingt ja erstmal nicht so verkehrt, denn dass Tiefkühlpizza und Dosennudeln nicht das Ernährungsoptimum sind, ist weitestgehend bekannt. #clean bedeutet also #healthy. Denn „sauber“ ist „gesund“, das wissen wir aus der Putzmittelwerbung. #healthyliving erreicht man am Besten durch Mahlzeiten, an die sich wenigstens eines dieser Schildchen kleben lassen: #vegetarian, #vegan, #raw, #lowcarb oder – sogar deutsch!: #zuckerfrei. Diese Ernährungswelle treibt kuriose Blüten, insbesondere die #zuckerfrei-Fraktion treibt mir abwechselnd Lachtränen oder Entgeisterung in die Augen. Frau Brüllen schrieb da ausführlich zu, Frau Rabe zog nach und das Internet weiß noch viel mehr zu berichten, so man sich denn tiefergehend informieren möchte.
Ich unterstelle, dass die #zuckerfrei-Fraktion (an der ich mich jetzt mal aufhänge) im Grunde eine super Absicht hatte. Nicht einfach alles in sich hineinstopfen, ein bißchen auf den Nährwert schauen, Speisen müssen nicht überwürzt/übersüßt sein und naja, im Kindergarten sind Nutellabrote sowieso nicht erlaubt. Man tauscht sich ein bißchen aus und dann kommt diese Internetdynamik ins Spiel. „Die Sache“ braucht einen Namen, damit alle Einwände, Vorschläge und Ideen gesammlt werden können, #hashtags sind dafür einfach super. Der Rahmen steht. Man macht sich also daran, dieses zuckerfreie Leben zu testen und stellt fest, dass das wirklich, wirklich schwer ist, denn Zucker ist ja überall drin! Wenn etwas überall drin ist, womöglich sogar in Speisen, in denen wir aufgeklärten Menschen Zucker beispielsweise gar nicht vermuten (in Tomatenmark! In fast allen Fertigprodukten, auch wenn die salzig sind! Im Brot vom Bäcker! ÜBERALL!), dann wittern wir gerne eine Verschwörung, da will uns jemand böse. Wer will uns immer böse? Die Industrie. Industrie, das sind Fabriken, Fabriken sind dreckig, machen die Umwelt kaputt, sehen hässlich aus, da kann einfach nichts Gutes herkommen. Das Übel ist gefunden: der Industriezucker! Wir verzichten jetzt alle auf Industriezucker. Weil wir aber auf Süßes stehen und die Kindelein empört die ungesüßten Dinkel-Nußkekse ausgespuckt haben, wenden wir uns der natürlichen Süße zu: reife Bananen, beispielsweise. Honig! (den aber nur nur für Nichtveganer). Oder Rohrohrzucker (da steckt ja „roh“ drin, das muss toll sein!). Und stets auf der Suche nach Abwechslung entdecken wir dann Agavendicksaft und Kokosblütenzucker und sind gerne bereit, dafür das vierfache von einem Kilo Haushaltszucker zu bezahlen, weil im Internet, da bei Instagram, hat die eine Ernährungsqueen das gezeigt. Und bei Twitter, da SCHWÖRT man darauf. Das ist #healthy. Und zack! Viele Fliegen mit einer Klappe: Communityfeeling, weil „wir gegen die Zuckermafia“, Gruppenkuscheln, weil „wir gegen die Lästerer“ und obendrein ein mildes Überlegenheitsgefühl, weil man einfach weiß, dass man es besser macht, als die anderen. (und insgeheim hofft manch einer, ein paar Kilos abzuspecken, aber darüber reden wir nicht, wegen #bodylove, #bodyacceptance und wir sind alle gegen #fatshaming. Deshalb: Psst.)
„Diese Sache“ macht mich kolossal wütend! Auf Instagram kann ich ihr ganz gut aus dem Weg gehen, doch bei Twitter begegnet sie mir ständig. Ich kann gar nicht soviel muten und blocken, wie sie mir in Form von Retweets, Replys oder „haha, ich mach mich lustig drüber“- oder „was ich da neulich wieder gesehen habe!“-Tweets in die Timeline gespült wurden. Twitter muss ich also gerade ein bißchen meiden.
Und warum bin ich denn so wütend? Ich bin wütend, weil „diese Sache“ so unreflektiert ist, nicht mal annähernd zu Ende gedacht ist. Mal davon abgesehen, dass es wenig ernährungstechnische und schon gar keine relevanten Unterschiede zwischen Haushaltszucker (ich verweigere die Bezeichnung „Industriezucker“) und Kokosblütenzucker gibt, ist beispielsweise Letzterer eine echte Umweltsau. Und wenn Zucker deshalb gemieden werden soll, weil er aus der Industrie kommt und schadstoffbelastet ist, sollte man vielleicht kurz darüber nachdenken, woher der Ersatz kommt. Kokosblütenzucker beispielsweise kommt hauptsächlich aus Südostasien, aus Thailand oder Indonesien. Der Nektar wird aus Kokospalmen gesammelt, für ein halbes Kilo Zucker braucht es etwa zwei Liter Nektar, so viel, wie von einer Palme geerntet werden kann. Ein halbes Kilo Zucker, wie weit kommt man damit, selbst bei eingeschränktem Verbrauch? Wieviele Palmen braucht es für #zuckerfreieAlternativen? Dass der Kokosblütenzucker trotz Weiterverarbeitung (Achtung! Industrie!) und Transport (Umweltbelastung!) in Ihren nächsten Drogeriemarkt dennoch einigermaßen erschwinglich ist, liegt übrigens auch daran, dass die Kokosblütennektarsammler und die Menschen, die den Nektar weiterverarbeiten, keinen angemessenen Lohn bekommen. Nicht mal annähernd. Aber hey! Hauptsache Sie können Haushaltszucker durch „gesunde“ Exotik ersetzen. Kokosblütenzucker lässt sich hier auch durch Agavendicksaft austauschen. Agavendicksaft kommt aus Mexiko, der Rest bleibt gleich. Vollrohrzucker oder nach dem ersten Raffinieren – Rohrohrzucker – kommen übrigens meist aus Südafrika, Kuba, Brasilien und von den Philippinen. Wer seine Ohren und Augen nur ein klein wenig offenhält, weiß um Arbeits- und Lebensbedingungen in diesen Ländern.
Der Zuckerrübenbauer um die Ecke bekommt auch zu wenig Lohn, das streite ich niemals ab. Auch die Diskussionen um Insektizide, Pestizide und Düngemittel sind mir vertraut. Wissen Sie übrigens, wie die Pflanzen in beispielsweise Bananenplantagen behandelt werden? Oder wieviel Wasser Zuckerrohr zum Wachsen braucht? Bevor Haushaltszucker völlig unreflektiert verteufelt wird, sollte vielleicht über den Rand der Zuckerdose geschaut werden, ob nicht die „gesunden“ Alternativen außer total im Trend zu sein einfach nur Mist sind.
Alternativen für Haushalts- oder Kristallzucker sind Honig, Rübensirup oder Apfeldicksaft. Diese werden hier in Deutschland produziert, sogar in Bioqualität, zum halben Preis der exotischen Varianten. Oder man hält sich einfach an die extrem altmodische „alles in Maßen“-Vorgabe, dann stimmt das mit dem #healthyeating auch schon wieder. Ok, altmodisch geht nicht, nennen wir es einfach #retro.